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Mit welchem Recht der Parlamentspräsident die Austritterklärung bis Dienstag fordert, ist mir jetzt auch nicht bekannt. Welche und wie viele Säue die europäische Presse jetzt durch Dorf treibt, ist unwesentlich, die Yellow-Press wird auch nicht besser sein, allerdings sollte sich das EU-Spitzenpersonal mit unnötigen Äußerungen zurückhalten.
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Der aus Deutschland entsandte EU-Abgeordnete Martin Schulz verfolgt damit eine ziemlich durchsichtige Strategie: Dadurch, dass die in den Verträgen - aus gutem Grund - enthaltene 2-Jahres-Frist von ihm durch Säbelrasseln verkürzt werden soll, möchte er absichtlich den Preis des Austritts für Großbritannien erhöhen. Durch einen zu schnellen Austritt soll es zu Verwerfungen kommen und zudem sollten die anderen austrittswilligen Staaten durch dieses Negativbeispiel abgeschreckt werden. Rechtsgrundlage für die Verkürzung der Einreichfrist auf zwei Werktage gibt es wohl keine.
Es soll also keine Zeit für eine geregelte Neuordnung bleiben, er nimmt absichtlich Wirrwarr in Kauf.
Ich kann mir dies nur so erklären, dass Martin Schulz (SPD) aufgrund der zunehmenden Komplexität zumindest teilweise einen Realitätsverlust erhalten hat. Dieser begann Anfang des Jahrtausends, als sich die bürokratischen Probleme der EU binnen kurzer Zeit vervielfachten:
15 neue Staaten mit beinahe nicht vorhandener demokratischer Tradition traten bei. Ohne dass irgendwelche bisherigen Regelungen adäquat angepasst werden konnten. Während europäische Ausschreibungen bei einem Lohnkostengefälle zwischen Hochlohnländern und Niedriglohnländern bei einer Differenz von 30 % funktionierten, geht es nicht mehr, wenn die Beitrittsländer 90 % billiger anbieten können. Zudem wurde schleichend das Prinzip der Ausschreibungen verändert: Bei manchen (nicht sicherheitsrelevanten) Ausschreibungen müssen Sie inzwischen
die Lebensläufe und Erfahrungen aller Mitarbeiter belegen, ohne dass dies irgendwie sinnvoll wäre. "Früher" reichte ein Sachkundenachweis des Unternehmens, wie beispielsweise eine DIN/EN-vergleichbare Zertifizierung.
Sehr häufig finden sich die folgenden Formulierungen in EU-Unterlagen:
"curriculum vitae or description of the profile of the person(s) (preferably in Europass format) primarily responsible for managing and implementing the event(s) and activities"
Dies bedeutet, dass die Teilnahme an jeder Ausschreibung noch mehr Zeit verbraucht als früher.
Derer Beispiele der Verkomplizierung gibt es viele, zusammen mit einer enormen Multiplizierung dessen, was plötzlich die EU und nicht mehr die souveräne Staaten regeln. Das
Brexit-Wahlergebnis widerspricht also der Wahrnehmung von Schulz & Co., dass es bei der Entwicklung zum Gesamtstaat Europa
immer nur eine Richtung gibt. Deshalb kann der Austritt für alle 27 verbleibenden Staaten sogar gut sein, da über das Gesamtpaket EU nachgedacht werden kann.
Auch an die Frage inwieweit traditionelle Werte (wie die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik) in vielen Feldern durch neues "EU"-Recht außer Kraft gesetzt werden. Denken Sie an Ihren ursprünglich unbefristet ausgestellten Führerschein, der am 19. Januar 2033 für ungültig erklärt wird. In der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit würde dies unter das Verbot einer echten Rückwirkung fallen.
Ebenso wie vieles an neuen Regelungen, die ganze Branchen verwandelt, ohne dass die "lokalen" Abgeordneten in den einzelnen Ländern hätten abstimmen dürfen. Der Automatismus EU-Recht hat Vorrang vor Recht der Mitgliedsstaaten wird letztendlich zum tatsächlichen Zerfall der EU führen.
Da sollten nicht die Wähler beschimpft werden, sondern schlicht und einfach die Frage der optimalen Verwaltung gestellt werden dürfen. Ganz ohne Unterstellung, dass
Gerd jetzt plötzlich und unerwartet einem nationalistischen Lager zugehören würde. Bloß weil er eine Tabu-Frage stellt. Vielleicht werden die Historiker auch irgendwann sehen, dass der optimale Arbeitsteilungsgrad irgendwo um das Jahr 2002 gewesen ist. Eine Balance zwischen freiem Markt und neuer Bürokratie.
Und dass die Bewegungen hin zur zentralen Organisationseinheit EU auch andere, bewährte Bündnisse in Frage stellten. EUNAVFOR Med (Mittelmeereinsatz) wäre meiner Meinung nach eher ein UN-Mandat oder NATO-Einsatz, denn ein EU Projekt. Es werden ja NATO-Außengrenzen geschützt, die mehr oder weniger zufällig auch EU-Grenzen sind.
Deshalb kann ich mich auch der Beurteilung der Finanzmärkte nicht anschließen, die praktisch alle Aktien im mehr als 5 % abwerteten. Dies wäre meiner Meinung nach lediglich für Immobilienaktien/-bewertungen in London richtig gewesen. Ansonsten wird aber das plötzliche Verzollen-Müssen von Waren nach/von England nur sehr wenig Spuren hinterlassen.
Zumal die Tür für irgendeine Art Freihandelszone nicht zugeworfen werden müssen. Wenn Juncker, Schulz & Co. über die bestmögliche Arbeitsteilung nachdenken und ohne Denkverbote nachdenken, dann wird sich irgendeine Art Zwischenstufe zwischen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und einem Gesamtstaat Europa ergeben. Dann lässt sich auch wieder mehr von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) umsetzen, die die Bundesrepublik groß und für viele Menschen begehrenswert gemacht hat.