Doch, zum ersten ist Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen so lange wir dort sind
Vielleicht nicht. Fragt sich nur, ob dadurch das Problem aus der Welt ist (stark zu bezweifeln!) oder es nur umverlagert wurde. Wenn Terroristen nicht in Afghanistan ausgebildet werden, dann eben irgendwo anders in der Region. Damit ist soweit auch nicht viel erreicht. Ganz davon abgesehen, dass die ISAF längst nicht ganz Afghanistan unter Kontrolle hat.
Natürlich werden Terroristen auch woanders ausgebildet. Im Jemen, in Pakistan, in Tschetschenien, in Somalia, etc… aber der Unterschied ist, dass sie in keinem Land ihre Lager offen betreiben können und von der Regierung unterstützt werden wie diese Kombination in Afghanistan mit Taliban-Al Quaida gegeben war (und nach einem Abzug jetzt wieder sein würde). Natürlich wird der internationale Terrorismus nicht aufhören, auch wenn Afghanistan stabil ist – aber solche „sicheren Häfen“ dürfen eben nicht mehr zugelassen werden, denn sie erleichtern den Terroristen ihre Arbeit enorm und steigern somit ihre Fähigkeiten. Und den Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.
Ich bin gespannt, was daraus wird. Bei solchen Angeboten kann man eigentlich nur höchst skeptisch sein und sollte es auch.
Natürlich muss man skeptisch sein. Es zeigt aber sehr gut, dass die „Insurgents“ kein monolithischer Block sind, und dass neben den hoffnungslosen Fanatikern auch weite Teile existieren die nicht mehr wirklich Lust haben zu kämpfen und mittlerweile denken, dass sie mit Reden mehr für sich erreichen können als mit Gewalt.
Natürlich können sie nicht gegen ISAF militärisch gewinnen. Aber das brauchen sie auch gar nicht. Für sie sind andere Dinge ein Erfolg, z.B. ein Anschlag wie heute.
Dieser wird für sie erst zum Erfolg, wenn er die gewünschten Konsequenzen hat. Sprich: wenn ISAF abzieht, weil durch die Anschläge der politische Rückhalt daheim schwindet, waren die Anschläge erfolgreich. Wenn ISAF trotzdem bleibt, waren die Anschläge erfolglos.
ISAF kann leider andersherum auch nicht gegen die Taliban gewinnen.
ISAF, sprich das Militär alleine, kann Afghanistan nicht alleine gewinnen. Das versucht aber auch niemand. Counterinsurgency bedarf militärischer, polizeilicher, psychologischer, ziviler, wirtschaftlicher, juristischer, etc Mittel und Kräfte. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz. Es funktioniert nicht nur mit Militär, aber es funktioniert eben auch definitiv nicht ohne Militär. Das muss jeder bedenken, der „andere Mittel“ fordert – diese Mittel sind bereits im Einsatz, können aber ohne Schutz des Militärs nicht wirken.
Das ist eben die entscheidende Frage, ob diese Perspektive wirklich da ist. Aus meiner Sicht ist es im Grunde aussichtslos, aus deiner ist es möglich. Da werden wir wahrscheinlich nicht auf einen Nenner kommen.
(…)
Wenn es diese Perspektive gäbe, wäre ich absolut einsichtig. Ich bezweifele das aber stark.
Die Perspektive ist vorhanden, wenn auch alles andere als gesichert und schon im Sack. Siehe Irak. Bis zur „surge“ und Petraeus´ Kommandoübernahme sah es dort mindestens so schlimm aus wie in Afghanistan, eher deutlich schlechter. Die Sache hat sich gedreht, die Amerikaner haben es geschafft die irakische Regierung halbwegs zu stabilisieren und die Sicherheitsverantwortung bereits weitestgehend an die Iraker übertragen. Wenn sich die Lage jetzt nicht noch einmal massiv ändert, die Regierung stürzt und durch ein Al-Quaida-Emirat oder ähnliches ersetzt wird, ist der Erfolg gegeben. Vor fünf Jahren hätte das kaum jemand geglaubt. Jetzt ist Petraeus in Afghanistan und setzt ein ähnliches Konzept um. Nicht dasselbe Konzept, denn jede Insurgency ist etwas anders. Dem muss man sich anpassen. Gewisse Kernpunkte sind aber gleich, z.b. ist der Ansatz nicht mehr „enemy centric“ sondern „population centric“, statt „search & destroy“ gilt „clear, hold & build“, der Aufbau der ANA und ANP wird als zentral betrachtet, das „Schlachtfeld“ ist nicht mehr national sondern regional, lokale Lösungen werden gesucht und lokale Kräfte halbautonom eingebunden. Und so weiter. Übrigens schon teilweise seit McChrystal.
Es geht nicht darum, dass ISAF die Taliban militärisch besiegen muss. Das ist gar nicht das Problem, denn ISAF schlägt die Taliban in praktisch jedem Gefecht. Aber wenn man nach diesen Gefechten nicht „die Früchte erntet“, d.h. langsam lokale Kontrolle gewinnt und der Bevölkerung staatliche „Dienstleistungen“ zur Verfügung stellt, ist das völlig umsonst. Dafür braucht man vor allem Zeit. Die Zeit bevor man ISAF abzieht. Sobald ISAF nicht mehr militärisch notwendig ist, weil ANA und ANP diesen Job machen können, haben die Taliban praktisch schon verloren – denn dann gibt es den kritischen Faktor „Zeit bis zum Abzug“ nicht mehr. Die einzig realistische Chance der Taliban scheint also ein vorzeitiger Abzug zu sein – und genau darauf zielen sie hin, indem sie mit ihren Anschlägen die öffentliche Meinung in der Heimat ins Visier nehmen. Das schwächste Glied ist nicht ISAF, ist nicht der Mangel an Geld oder anderen Mitteln – es ist der Durchhaltewille der Bevölkerung hier.
An dieser Stelle ist eine Abwägung vonnöten. Man muss sich einfach fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass wir nicht verlieren und welche Risiken man bei welcher Wahrscheinlichkeit eingehen will.
Wenn unser Durchhaltewille ausreicht stehen die Chancen sehr sehr gut. Der Ansatz, der seit 2009 gewählt ist, hat sich in anderen CI-Konflikten als sehr erfolgreich erwiesen. Siehe die einschlägige Literatur zum Thema:
Daniel Marston u.a.: „Counterinsurgency in Modern Warfare“
John A. Nagal: „Learning to Eat Soup with a Knife. Counterinsurgency Lessons from Malaya and Vietnam”
David Kilcullen: “Counterinsurgency”
Den Tenor vorweg genommen: es gelingt den Insurgents praktisch niemals, ihren Gegner militärisch zu besiegen. Sie müssen hoffen dass er entnervt aufgibt oder schwerwiegende Fehler macht. Hält die CI-Partei durch und handelt auch nur halbwegs vernünftig, sind ihre Chancen überaus gut, wie die historische Erfahrung zeigt.
Zweiter Teil der Frage: welche Risiken wir eingehen? Du meinst Verluste an Menschenleben? Das ist kein „Risiko“, sondern mit Gewissheit werden wir weitere Verluste haben. Die Frage ist, können wir sie ertragen? (Jetzt kommt der Teil, den man mir gleich als menschenverachtend ankreiden wird) Wir haben bis heute 44 Tote in Afghanistan, davon 27 Gefallene durch Feindeinwirkung (Quelle: Spiegel). Über 9 Jahre hinweg. Das sind militärisch gesehen keine signifikanten Verluste. Jeder Gefallene ist ein toter Kamerad, und jeder hinterlässt eine Familie in Trauer. Das steht außer Frage. ABER es sind keine Verluste die unsere reale Fähigkeit zum Weitermachen auch nur im Geringsten tatsächlich (!) beeinflussen. Wir haben (ohne Feindeinwirkung!) auch in Ex-Jugoslawien zig Tote gehabt (Unfälle etc) ohne abziehen zu müssen. Am Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin sind tausende Namen verzeichnet, tausende Tote Soldaten ohne einen Krieg gesehen zu haben. Es ist eine rein psychologische Sache. Man kann und muss um jeden Toten trauern. Aber die Parole „Jeder einzelne Tote ist zuviel“ klingt zwar toll, ist aber in der Realität nicht zu halten. Wir geben in Afghanistan Geld aus und verlieren Menschenleben. Das sind die Fakten, die realen Kosten, kein „Risiko“.
Mich würde aber durchaus interessieren, wie lange du dem Einsatz noch Zeit geben würdest, bis man abziehen sollte,
Ich persönlich? Locker 15-20 Jahre bis der Abzug zu 100% abgeschlossen ist, beginnen kann er schon sehr viel früher. Aber so lange wird es nicht werden, da so lange kaum jemand bereit ist weiter zu machen.
falls sich nichts Entscheidendes ändert.
Hier liegt der Punkt. Du meinst damit „falls sich nichts Entscheidendes zum Positiven ändert“. Es hat sich aber schon einiges zum Positiven geändert, siehe oben den neuen Ansatz seit 2009. Wenn wir jetzt diesen Ansatz durchziehen muss sich vielmehr etwas Entscheidendes zum Negativen ändern, damit es im Schlamassel endet.