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Literatur zu Afghanistan, Guerillakrieg, Guerillabekämpfung

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Literatur zu Afghanistan, Guerillakrieg, Guerillabekämpfung


In Afghanistan, das hat man mittlerweile mitgekriegt, läuft ein Krieg. Genauer gesagt ein asymmetrischer Krieg, ein Guerillakrieg, ein Aufstand. Dieser Konflikt entspricht nicht den Kriegen wie wir sie aus dem Geschichtsunterricht kennen, mit Frontlinien, großen Schlachten, einem klaren Anfang und Ende, sich offen bekämpfenden Armeen. Er ist unklar, mehr grau als schwarz oder weiß, schwer zu verstehen. Was wir nicht verstehen, das verunsichert uns, erscheint uns ohne Logik, wir erkennen kein Muster, evtl macht es uns Angst oder wir lehnen eine Beschäftigung damit ab weil wir es eben nicht verstehen. Wir wollen klare Antworten, aber die gibt es nicht.

Die folgende Liste gibt einen Überblick über Bücher, mit deren Hilfe man sich ein besseres Verständnis für dieses komplexe Thema verschaffen kann. Kurze Kommentare zu Inhalt und Autor sollen klar machen, womit man es eigentlich zu tun hat. Die Liste enthält sowohl Werke klassischer Strategie und Guerillastrategie, als auch Werke der Gegenseite, also Counterinsurgency („Aufstandsbekämpfung“), sowie eine speziellere Abhandlungen z.B. zu den Taliban oder historische Beispiele wie Vietnam, Irak etc

Für Nachfragen, Kommentare, Diskussion und so weiter gibt es einen extra Thread.

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Mao Tse-Tung: “On Guerrilla Warfare”, University of Illinois Press, Urbana/Chaicago 2000.

Guerillakriegführung zu verstehen ohne Mao zu lesen gleicht dem Versuch Theologie zu studieren ohne in die Bibel zu sehen. Man kommt an Mao einfach nicht vorbei. Seine Gedanken und Maximen wie den berühmten Satz vom Guerilla, der sich im Volk bewegen müsse „wie der Fisch im Wasser“, hat der spätere „Große Vorsitzende“ bereits während des Kampfes gegen die japanischen Besatzer entwickelt. Er ist stark von Lenin, Clausewitz und Sun Tsu beeinflusst und adaptiert ihre Ideen, um ein Regelwerk für den Kampf eines waffentechnisch unterlegenen Volkes gegen einen moralisch unterlegenen Feind (sei es ein Besatzer oder die eigene Regierung) zu schaffen. Dieses Regelwerk mag nicht zu 100% auf jede Situation übertragbar sein, aber es kommt nahe heran – Grundsätze wie der Erhalt der eigenen Kräfte, die langsame Abnutzung des Gegners, das vorläufige Vermeiden offener Gefechte, das Untertauchen in der Bevölkerung und die Einhaltung eines Verhaltenskodex um das Wohlwollen der Bevölkerung zu gewinnen sollte jeder Guerilla weltweit tunlichst beachten.
Mao ist auch deswegen Vorbild für viele Guerillas, weil er erfolgreich war. Sein Modell der „drei Phasen“ ist zwar danach in manch Konflikt gescheitert, aber es wird trotzdem weiterhin nachgeahmt, z.B. teilweise von den Taliban, wie mancher Beobachter feststellt. Mehrere andere Theoretiker des Guerillakrieges stützen sich auf Mao, und so ist sein Werk auch für das Verständnis ihrer Bücher unerlässlich.

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Trinquier, Roger: „Modern Warfare. A French View of Counterinsurgency“, Praeger Security International, Westport 2006.

Trinquier gehörte zu jener Generation französischer Offiziere, die im Anschluss an die Demütigung von Niederlage und Besatzung 1940-44 den angeschlagenen Ruhm der Grande Nation zumindest in den Kolonien von Indochina und Algerien wieder herstellen sollten. Nach der Niederlage gegen den Vietminh meinte diese Generation der „Zenturionen“ das Grundmuster eines neuen, revolutionären (kommunistischen) Krieges erkannt zu haben und beschloss, in Algerien die richtigen Gegenmethoden anzuwenden, d.h. „die Samthandschuhe auszuziehen“. Militärisch weitgehend erfolgreich schufen sie damit allerdings das Bild vom „schmutzigen Krieg“, den Frankreich so nicht führen wollte und daher Algerien ebenfalls aufgab. Trinquiers Buch spiegelt dies wieder. Seine Methoden sind rau, Moral und Recht spielen eine untergeordnete Rolle. Es geht darum, mit geheimdienstlichen und polizeilichen Mitteln die verborgene Parteiorganisation des Feindes auszurotten, seine bewaffneten Kämpfer mit kleinen Kommandos zu jagen und zu vernichten, und auch vor Folter schreckt er nicht zurück. Es sind wirklich Methoden eines schmutzigen Krieges im Dunkeln mit dem Messer zwischen den Zähnen. Es sind Methoden, die heute als nicht mehr zeitgemäß und kontraproduktiv gesehen werden, aber lange hatten sie großen Einfluss auf das Denken insbesondere französischer Offiziere. Zur Nachahmung nicht empfohlen, zum Lesen durchaus, denn den riesigen französischen Einfluss auf moderne Counterinsurgency erfasst man nur, wenn man auch den „bösen“ Franzosen gelesen hat.

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Galula, David: “Counterinsurgency Warfare. Theory and Practice”, Praeger Security International, London 2006.

Kniet nieder, Sterbliche, und huldigt St. David I. Wieso der erste? Nun, wäre Counterinsurgency eine Religion, dann wäre ich ein Mitglied der Kirche von der Heiligen Davidianischen Dreifaltigkeit. Der Prophet dieser Konfession wäre David Galula, der die Erkenntnis als erster predigte, unser Papst wäre David Kilcullen, der die reine Lehre interpretiert und verkündigt, und unser Messias ist David Petraeus, welcher sie wahr werden ließ auf Erden. Amen, Brüder.
Ernsthaft. David Galula ist der „gute“ Franzose, im Gegensatz zum „bösen“ Trinquier. Galula plädiert für den „population centric approach“: beschütze und kontrolliere die Bevölkerung, gewinne sie für dich, und der Guerilla wird zu Grunde gehen weil du ihn seiner Basis beraubt hast (den Fisch vom Wasser getrennt). Das ist der Gegensatz zum „enemy centric approach“ (vernichte den Guerilla, dann kontrollierst du wieder Land und Leute), und dieser „population centric approach“ ist quasi der aktuelle Mainstream in Counterinsurgency. Dabei wurde Galula, als er 1961 sein Buch schrieb, nicht viel Aufmerksamkeit zuteil. Seine Landsleute tendierten mehr Richtung Trinquier. Aber Galula wurde von Amerikanern „wiederentdeckt“ und fand 2006 über das neue Counterinsurgency Field Manual den Durchbruch. Genauere Angaben zum Inhalt spar ich mir, denn selbst lesen ist angesagt – wer Galula nicht gelesen hat, kann bei COIN nicht mitreden. Punkt.

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Guevara, Ernesto (aka Che): “Guerrilla Warfare”, University of Nebraska Press, Lincoln 1998.

Guevara hat ein echtes Imageproblem wenn es um COIN-Theorie geht, und zwar ein doppeltes. Erstmal war er einfach “Che”, und damit ein seltsames Protest-Popkultur-Trend-Idol, auf T-Shirts gedruckt. Kann man den als COIN-Theoretiker dann überhaupt ernst nehmen? Ich meine, schon mal ein 15jähriges Girlie mit Dave-Kilcullen-T-Shirt gesehen? Sicher nicht. Aber Guevara konnte nicht nur gesetzlos in die Kamera gucken, er konnte auch schreiben, und er hat geschrieben, nämlich wie man zur Befreiung der geknechteten Massen Lateinamerikas Guerillakrieg führt. Das liest sich im Wesentlichen erst mal alles wie bei Mao (der außerhalb der VR China auch eher selten auf T-Shirts gedruckt wird, wohl weil er ein dicker Chinese und kein schnittiger Latino ist), und es ist in weiten Teilen auch dasselbe, aber einen wesentlichen Unterschied gibt es: Guevaras “foco”-Theorie, die quasi dem Revolutionsexport dient. Sie besagt, dass nicht unbedingt die Bedingungen für das Volk so mies sein müssen, dass es zur Revolution getrieben wird, sondern dass ein paar entschlossene Revolutionäre durch Terrorismus und Guerillakrieg diesen Zustand künstlich schaffen können (so ähnlich hatte das in Kuba ja funktioniert). Man könne also aus befreiten, revolutionären Ländern kleine Trupps in andere Länder schicken, und Viva la Revolucion! Und den Oberfeind, den Beschützer der Unterdrücker, die USA, könne man so ausbluten, indem man “zwei,, drei, viele Vietnams” schafft. Guevara hat auch in der Praxis versucht, so die Revolution nach Afrika und Bolivien zu exportieren – und damit kommen wir zum zweiten Teil des Imageproblems: er ist nämlich beim Versuch draufgegangen… Zugegeben, nicht gerade die beste Empfehlung für eine Theorie, wenn ihr Schöpfer beim Versuch der Beweisführung scheitert und stirbt. Aber trotzdem ist die Theorie nicht tot, denn z.B. Al Quaida weist heute noch deutliche focoista-Merkmale auf. Also ist es durchaus der Mühe wert, sich mit Guevara zu befassen.

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