"„Russland sitzt am längeren Hebel“:
Militärhistoriker sieht Euphorie über möglichen Sieg der Ukraine skeptisch
Für
Sönke Neitzel ist der Ausgang des Krieges noch völlig offen.
Vorstellungen einer friedlichen Lösung hält er für weltfremd: Russland spiele bewusst auf Zeit.
Von Jan Kixmüller
Heute, 15:45 Uhr
Herr Neitzel, Sie lagen vor einem Jahr ganz richtig, als Sie uns sagten, dass sich dieser Krieg in die Länge ziehen werde. Was erwarten Sie, wie es nun weiter gehen könnte?Das kann man natürlich nicht vorhersagen. Für mich ist der Ausgang dieses Krieges noch völlig offen. Die Euphorie der letzten Monate, dass die Ukraine gewinnen wird, sehe ich mit Vorsicht. Wenn man sich die militärischen Potenziale anschaut, dann hat Russland zwar Probleme, aber langfristig die viel größere Zahl an Soldaten und das größere wirtschaftliche Potenzial, auch durch die Unterstützung Chinas. Dem steht nun die Ukraine mit zwölf Brigaden und 60.000 Mann gegenüber, um die erwartete Gegenoffensive zu starten.
Was folgt daraus?Ein Blick auf frühere Kriege zeigt, dass eine solche Offensive den Krieg nicht entscheiden wird. Denkbar ist sicher ein Erfolg wie im vergangenen September, ein Vorstoß von 30 oder 40 Kilometern. Wenn die Ukrainer die Schwarzmeerküste erreichen, wäre das schon ein sehr großer Erfolg. Aber dann ist die große Frage, ob sie das halten können – und was daraus folgt. Wenn die Ukraine nicht etwas völlig Überraschendes schafft, dann zielt die Offensive mehr auf die Innenpolitik und auf die europäischen Länder. Damit die sehen, dass mehr Waffenlieferungen etwas bewirken.
Also kein schnelles Ende?Auf keinen Fall. Ich sehe nicht, dass die Ukraine diesen Krieg rasch militärisch beenden könnte, auch nicht, dass Russland das könnte. Russland hat zwar viele Soldaten, aber auch große Probleme. Dass die Russen demnächst Kiew einnehmen, ist nicht zu erwarten. Das ist auch nicht ihre Taktik, in Bachmut ging es auch darum, die ukrainischen Kräfte abzunutzen. Das ist ihnen durchaus gelungen, auch wenn sie Bachmut nicht vollständig eingenommen haben.
Russland spielt also auf Zeit?Genau, sie ziehen den Krieg jetzt bewusst in die Länge. Die Russen sind zahlenmäßig überlegen. Die große Chance zur ukrainischen Gegenoffensive war im letzten Herbst, als Russland noch nicht mobil gemacht hatte. Damals haben wir in Deutschland aber noch darüber diskutiert, ob die Lieferung von Schützenpanzern den Dritten Weltkrieg auslöst. Jetzt haben wir eine mobilisierte russische Armee, die sich auf diesen Gegenangriff vorbereitet.
Das heißt?Für die Ukraine kann es keine strategische Überraschung mehr geben, nur noch eine taktische. Es geht also nicht um die Frage, ob die Ukraine angreift, sondern nur noch wo. Doch die Ukraine hat nicht die Kraft, Kesselschlachten wie im Zweiten Weltkrieg zu führen und sehr wahrscheinlich auch nicht, einen Moment wie im November 1917 an der Isonzo-Front zu erreichen, als die gesamte italienische Front binnen weniger Tage zusammenbrach.
Auch die Ukraine hat schwere Verluste erlitten, die Offiziere und Unteroffiziere, die seit 2008 von den Amerikanern oder Briten ausgebildet wurden, sind größtenteils tot oder verwundet. Es gibt sie nicht mehr – jedenfalls nicht in großer Zahl. All das deutet nicht darauf hin, dass die Ukraine in kurzer Zeit etwas erreichen könnte, das den Krieg beendet. Zumal Verbündete wie Deutschland immer noch zögern.
Von Deutschland kommt zu wenig, auch trotz des Milliardenpakets von Mitte Mai nun?In der deutschen Debatte kann man den Eindruck gewinnen, dass es nach jeder Lieferung die Hoffnung gibt, dass es nun aber auch gut sein muss, dass die Ukraine damit jetzt gewinnen muss und wir uns dann wieder um die anderen Probleme der Welt kümmern können. Es ist sicher noch nicht von allen verstanden worden, dass es hier nicht um die Lieferung von einigen Dutzend Leopard-Panzern geht.
Vielmehr haben wir einen andauernden Krieg, und wir brauchen fünf Monate, um die Panzer, die wir an die Ukraine geliefert haben, nachzubestellen. So ganz scheinen wir den Schuss noch nicht gehört zu haben. Allerdings muss auch gesagt werden, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius die letzte Lieferung wohltuend klar und sachlich kommunizierte.
Immer wieder ist von einem entscheidenden Schlag gegen Russland die Rede. Kann es den überhaupt geben?Die Ukrainer müssten die Russen in einen Bewegungskrieg verwickeln, das können sie nicht gut. Die Russen können sich verschanzen. Wenn es den Ukrainern aber gelingt, diese Verteidigungsstellung zu durchbrechen, müssen sie ins freie Gelände gehen und sie könnten darauf hoffen, die Russen in Panik zu versetzen. Wenn die russischen Streitkräfte den Kopf verlieren, kann viel passieren. Die Frage ist nur, ob das gelingen kann.
Welchen Bezug sehen Sie als Historiker?Als die Deutschen und Österreicher am 11. November 1917 die Italiener am Monte Matajur im heutigen Slowenien angriffen, glaubten sie nicht an einen Erfolg. Dann brach die gesamte italienische Front zusammen und man rückte bis zum Piave vor. Das sind Effekte, die es in der Militärgeschichte oft gegeben hat, wenn der Kulminationspunkt erreicht war. So etwas kann passieren.
Aber?Kenner der russischen Armee sagen, so etwas wie die Kriegsmüdigkeit der Italiener im November 1917 sei heute bei den Russen nicht zu erkennen. Um das Blatt zu wenden, müssten die Ukrainer die Front durchbrechen und rasch in die Tiefe des Raumes vorstoßen, um ihre Gegner in Panik zu versetzen. Wenn aber die Russen die Nerven behalten, kann ihnen nicht viel passieren. Es kommt jetzt darauf an, wie gut sie geführt werden und worauf sie sich vorbereiten.
Die Strategie des Kremls geht also auf?Für den Moment ja. Das erste Ziel, Kiew schnell einzunehmen, ist zwar gescheitert. Aufgrund der enormen Verluste hat man sich von größeren Operationen zurückgezogen und setzt nun auf Verzögerung, um die Ukraine letztlich ausbluten zu lassen. In einem Welthandel, in dem sich nur 34 Länder an den Sanktionen beteiligen, hat Russland viele Möglichkeiten. Die russische Wirtschaft ist nicht wie prognostiziert zusammengebrochen. Russland sitzt am längeren Hebel.
Was müsste passieren?Europa müsste massiver in die Ukraine investieren, auch um ein politisches Zeichen zu setzen. Es war ein Kraftakt, von den 2200 Leopard-2-Panzern in Europa etwa 60 in die Ukraine zu schaffen. Und jetzt können wir uns nicht einigen, wer die Artilleriemunition bezahlt. Das wird nicht reichen und dauert viel zu lange. Das wird die Ukraine nicht in die Lage versetzen, zu gewinnen oder zumindest Erfolge zu erzielen, die den Kreml zum Einlenken bewegen.
Immer wieder kommt es zu brenzligen Situationen zwischen russischen und Nato-Flugzeugen. Unlängst explodierten Drohnen über dem Kreml. Wird der Konflikt heikler?Ich würde eher herausstreichen, dass der Krieg bisher nicht heikler geworden ist. Im März letzten Jahres wusste niemand, wie weit Putin eskalieren würde. Die Drohung mit Atomwaffen stand im Raum. Jetzt sehen wir, dass ein sehr brutaler Krieg von Putin geführt wird, aber Russland und die Nato halten sich dabei sehr sauber auseinander. Beide Seiten haben offenbar ein eminentes Interesse, es nicht zur Eskalation kommen zu lassen. Als eine Rakete unbekannter Herkunft auf polnischem Boden einschlug, hat die Nato sehr schnell heruntergedimmt, und Reaktionen ausgeschlossen. Wir haben das Getreideabkommen, den Gefangenenaustausch und es gibt Gesprächskanäle.
Die Nuklearwaffen bleiben erst einmal im Bunker?Davon gehe ich aus. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie eingesetzt werden. Schon gar nicht, wenn Nato-Staaten 40 oder 50 Panzer liefern. Das Thema ist nicht akut. Selbst Bundeskanzler Scholz muss zugeben, dass seine Angst vor einem Atomwaffeneinsatz übertrieben war. Das war eine innenpolitische Debatte, die vor allem in Deutschland geführt wurde, nicht in Polen, Frankreich oder Großbritannien. Es ging vor allem darum, dass die SPD ihren linken pazifistischen Flügel besänftigen musste.
Ist es nicht ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass nun ausgerechnet in Gliwice – dem ehemaligen Gleiwitz, wo mit dem Überfall Deutschlands auf Polen durch einen fingierten Zwischenfall der Zweite Weltkrieg begann – deutsche Panzer repariert werden sollen?Eher wie ein Symbol eines neuen Europas, das sich weitgehend ausgesöhnt hat. Für den Ort gibt es eine logische Erklärung, denn dort ist die Infrastruktur für die Reparatur vorhanden. Dass Manchem mulmig dabei ist, dass deutsche Panzer wieder durch die Ukraine rollen, zeigt aber auch, dass unsere Geschichte natürlich noch immer in die Gegenwart wirkt. Trotzdem können wir uns nicht heraushalten. Es ist jetzt ein anderer Krieg, eine andere Zeit. Auch wenn es richtig ist, die Geschichte präsent zu halten, müssen wir nach vorne schauen. Jetzt geht es um andere Fragen, zum Beispiel, wie wir uns als Europa der Gegenwart aufstellen wollen.
Im vergangenen Sommer forderten deutsche Intellektuelle, eine friedliche Lösung herbeizuführen. War das vollkommen unrealistisch?Die Frage ist, was man will. Freiheit gegen Frieden eintauschen zu wollen, keine Waffenlieferungen zuzulassen, das war eine Extremposition. Viele haben ohne Sachkenntnis vor allem emotional über Sicherheitspolitik diskutiert. Ohne Waffenlieferungen hätten wir keine Ukraine mehr. Wir haben erkannt, welche Bedrohung ein Erfolg Russlands auch für die baltischen Staaten und Polen bedeuten würde. Wir sind mehrheitlich der Meinung, dass die westliche Staatengemeinschaft hier zusammenstehen muss.
Man kann nicht jeden Konflikt mit den Erfahrungen der beiden Weltkriege oder des Holocaust erklären. Aus militärhistorischer Sicht wird deutlich, dass es auch Kriege gibt, die unterhalb der Schwelle der Totalen Kriege bleiben. Sicherlich wissen wir nicht, wie der Konflikt weitergehen wird, aber offensichtlich handelt Putin vergleichsweise rational. Er hat weder auf die versprochene Nato-Mitgliedschaft Finnlands noch auf die Panzerlieferungen entsprechend reagiert.
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Erstaunlich ist, dass bestimmte Umschlagbahnhöfe in der westlichen Ukraine, nicht angegriffen werden.Sönke Neitzel, Universität Potsdam"
Was erstaunlich ist.In der Tat, denn ohne die westlichen Waffenlieferungen könnte die Ukraine nicht kämpfen. Es gibt bestimmte Umschlagbahnhöfe in der westlichen Ukraine, die nicht angegriffen werden. Russland sollte diese Infrastruktur angreifen können, macht das aber nicht.
Warum?Wir wissen es nicht. Es gibt schon viele Verschwörungstheorien dazu. Eine Eskalationsdominanz, auch im Sinne einer Einbeziehung von Belarus, hat es bisher nicht gegeben.
Wie lässt sich dieser Krieg nun letztlich beenden?Es gibt offensichtlich drei Möglichkeiten: dass die Ukraine die russischen Truppen von ihrem Territorium vertreibt, dass Russland den ukrainischen Staat zerschlägt oder etwas dazwischen. Das könnte ein Waffenstillstand sein oder ein Einschlafen der Kämpfe ohne Verhandlungen. Letzteres erscheint mir am wahrscheinlichsten.
Wenn der Westen genügend Waffen liefert, damit sich die Ukraine weiter verteidigen kann, ist zumindest die Existenz des Staates gesichert. Vielleicht gibt es auch Gespräche, aber ich erwarte nicht, dass die in absehbarer Zeit zu einem Erfolg führen. Ob die Ukraine das durchhält, hängt von der Intensität unserer Unterstützung ab. Wir können die Szenarien theoretisch beschreiben, aber der Verlauf des Krieges hängt von so vielen, auch innenpolitischen Faktoren ab, dass wir keine seriöse Prognose abgeben können."
Quelle: Tagesspiegel.de
https://www.tagesspiegel.de/wissen/russland-sitzt-am-langeren-hebel-militarhistoriker-sieht-euphorie-uber-sieg-der-ukraine-skeptisch-9819320.html