Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? Wer ist Mullah Kahar, warum paktieren wir mit dem? Wieso zur Hölle patroullieren deutsche Soldaten zusammen mit Milizionären, die vor ein paar Wochen noch auf sie geschossen haben? Welche Rolle spielen die „Warlords“ in Afghanistan? Wer ist eigentlich Freund und Feind? Und wie lange?
Fragen über Fragen, und die Antworten sind nicht einfach zu geben.
Ein wichtiges Schlüsselkonzept, um Kriege wie den in Afghanistan zu verstehen, stellt die Theorie des „Accidental Guerrilla“ von Kilcullen dar:
Kilcullen, David: „The Accidental Guerrilla. Fighting Small Wars in the Midst of a Big One”, Oxford 2009.
Stark verkürzt gesagt: nicht jeder Gegner ist ein überzeugter Taliban-Kämpfer. Verschiedenste Motive können einen Kämpfer auf die eine oder andere Seite ziehen. Geld. Ehre. Langeweile (ja!). Wer zahlt besser? Wem fühle ich mich mehr verbunden? Wer ist mir fremd? Wer ist besser für meine Familie, meinen Stamm, mein Dorf? Wer herrscht hier gerade, oder wer wird auf Dauer der Stärkere sein? Wer hat meinen Bruder umgebracht? Usw usw usw
Um ein Extrembeispiel zu nennen: in o.g. Buch legt Kilcullen ein Ereignis in einem Tal im RC East dar. In einem abgelegenen, gottverlassenen Tal gerät eine afghanisch-amerikanische Patroullie in einen Hinterhalt (vermutlich Haqqani-Kämpfer). Sie igeln sich ein, rufen die Air Force und halten die Stellung. Im Laufe des Tages kommen immer mehr Kämpfer aus den umliegenden Dörfern und beteiligen sich am Kampf gegen ANA und Amerikaner. Einige Zeit nach diesem Gefecht, das Tal ist mittlerweile von COPs durchzogen und der Kontakt mit der Bevölkerung gut, erklären Dorfälteste einem amerikanischen Offizier, WARUM ihre Männer ohne erkennbaren Grund die Insurgenten unterstützten. Dieses Gefecht war das ERSTE große Ereignis in ihrem abgelegenen Tal seit Jahrzehnten (!). Sie MUSSTEN einfach mitkämpfen, das gebot allein schon ihre Ehre als Männer. Daneben stehen und zugucken? Undenkbar. Und als die ersten jungen Kerle mit dabei waren, mussten wohl oder übel auch die anderen Kämpfer aus den Nachbardörfern ihren Verwandten und Stammesgenossen zu Hilfe kommen. Und „zack“ schon hat man ein ganzes Tal gegen sich. Aus Langeweile (!!!) – kein Witz.
Ein anderes Beispiel ist der Fall Al Anbar. Diese Provinz im Irak war bis 2007 eine Hochburg der Insurgenten – bis sich die sunnitischen Stämme auf einmal mit aller Gewalt gegen Al Quaida wendeten und Seite an Seite mit irakischer Armee und US Army kämpften. Warum? Weil die (ausländischen) AQ-Kämpfer ihnen religiöse Vorschriften machten, ihre Stammestraditionen missachteten und Frauen forderten um in die Stämme einzuheiraten. Ging gar nicht. Man könnte sagen, die Sunniten bekämpften Al Quaida, weil die ihre Mädels ficken wollten. Der Grund hat in Bayern schon mehr als eine Wirtshausschlägerei ausgelöst.
Genug der Anekdoten, betrachten wir mal das Beispiel Mullah Kahar (MK) und zitieren ein wenig aus dem FAZ-Artikel von Marco Seliger:
„Die Taliban hatten Milizen angeheuert wie die von Mullah Kahar, die erledigten die Drecksarbeit für sie.“
Die Motivation ist also relativ simpel: Geld. MK führt eine Miliz, diese ist ihm loyal, und die Taliban mieten (!) seine Loyalität. In einem Land, in dem seit 30 Jahren Krieg herrscht, ist Gewalt ein recht normales Geschäft. Man darf davon ausgehen, dass MK kein glühender Talib ist. Wenn jemand besser zahlt, oder anderweitige Vorteile winken, lässt er die Taliban fallen. Und so geschieht es:
„Dann kamen deutsche Gebirgsjäger, amerikanische Kampfhubschrauber und afghanische Soldaten in das Gebiet. Der Wind drehte, Mullah Kahar wechselte die Seiten.“
Der Wind dreht. Die Taliban sind nicht mehr die Platzhirsche im Tal. Die Deutschen und Amerikaner kommen, zeigen dass sie stärker sind, und zeigen durch ihre errichteten COPs dass sie gekommen sind um zu bleiben und nicht nächste Woche wieder die Taliban das Tal beherrschen. Und mit ihnen kommt die ANA und die afghanische Regierung. Die werden noch dauerhafter hier bleiben. Man sollte sich also mit den neuen Herren arrangieren und seinen Platz in diesem System finden. Und glücklicherweise (für MK) reichen die neuen Herren die Hand und haben ein „local security forces“ Programm mitgebracht:
„Mitte Januar fahren dunkle Limousinen am COP Pauli vor. Der Provinzgouverneur von Baghlan steigt aus, Kameras und Mikrofone richten sich auf ihn. „Wer mit der Regierung zusammenarbeitet, wird davon profitieren“, sagt der Gouverneur und blickt wohlwollend auf Mullah Kahar. „Ich heiße die verlorenen Söhne mit großer Freude willkommen.““
Die verlorenen Söhne kriegen handfeste Vorteile: einen bezahlten Job als „Lokalpolizist“. Jetzt ist es ihr eigenes Interesse, dass dieser Zustand stabil bleibt.
„Afghanistans Präsident Hamid Karzai hat Kahars Leute in den offiziellen Status einer lokalen Polizei, einer Bürgerwehr, erhoben. Sie erhalten vom Staat - also von den Hauptgeberländern Amerika, Japan, Deutschland - 80 bis 125 Dollar pro Monat, tragen einen Pass, der sie als Polizisten ausweist, und eine registrierte Kalaschnikow. Sie schützen ihr Dorf vor den Taliban, sorgen für Ordnung.“
Dieses Vorgehen wird flankiert von Kooperation mit inoffiziellen lokalen Machtstrukturen: Dorfvorsteher und Stammesälteste bestimmen mit, machen die Sache damit zur Sache des Dorfes, des Stammes:
„Die Ältesten haben vor einigen Monaten eine Versammlung abgehalten und entschieden, ihre Sicherheit in die Hände der 24 Überläufer von Mullah Kahar zu legen.“
Die Stimmung kippt. Die Taliban sind weg. Die „Neuen“ bleiben. Sie sind ganz ok. Sie achten die Tradition, sie wollen keine Rache, sie arbeiten mit unseren Brüdern und Söhnen zusammen, der Dorfvorsteher ist auch auf ihrer Seite, unsere eigenen Leute beschützen uns. Und ein wenig Propaganda tut das übrige:
„Dann hatte Mullah die Idee mit den Bildern. Er zeigte sie in Kotub herum. „Seht her“, sagte er den Leuten, „das waren die Taliban. Sie töten Frauen und Kinder, sie sind Barbaren.“ Die Einwohner schworen blutigen Widerstand, sollten die Aufständischen noch einmal in ihr Dorf kommen.“
Dieses Dorf ist erstmal auf unserer Seite.
So „einfach“ ist das. Aber es ist nicht einfach. Es braucht viel Arbeit und hohes Risiko:
„COP Pauli ist die Blaupause für das weitere Vorgehen der Bundeswehr in Baghlan. Immer tiefer dringen die Gebirgsjäger in das Tal, nehmen Dorf um Dorf ein, bauen bis Mitte Februar elf Außenposten und stationieren Polizeieinheiten oder Bürgerwehren.“
Dorf für Dorf. Kleine Außenposten, keine großen, sicheren Feldlager. Kleine Posten, angreifbar, aber mitten zwischen den Afghanen. Wir zeigen ihnen, dass wir hier sind um SIE zu schützen. Wir sind 24h am Tag bei ihnen. Wir bauen lokale Kräfte auf, die sie auch nach unserem Abzug schützen können. Wir jagen die Taliban raus, dann HALTEN wir das Dorf, und bauen es auf, verbessern ihr Leben, geben ihnen Sicherheit und handfeste Vorteile:
„In die Dörfer kehrt Leben zurück. Die Bundeswehr lässt Schulen und Krankenhäuser bauen, Brunnen bohren, Stromkabel verlegen.“
Clear, hold and build. Vor allem „build“ ist wichtig. Das ist das Rezept, das am besten funktioniert. Das ist das Rezept, das Petraeus seit Dezember 2009 verordnet hat. Und er ist offenbar zufrieden mit der Art, wie die Deutschen es umsetzen:
„General David Petraeus, Oberbefehlshaber der internationalen Truppen in Afghanistan, empfiehlt inzwischen seinen Kommandeuren, sich am Vorgehen der Bundeswehr ein Beispiel zu nehmen. Vorbei die Zeiten, als in Kabul, Washington und London über die „deutschen Angsthasen“ geätzt wurde, die sich nicht aus ihren Feldlagern trauten. Die Angsthasen, sagt ein Soldat, säßen ohnehin weniger in den Camps als vielmehr in den Berliner Amtsstuben.“
Und jetzt zitieren wir mal Bismarck: „Bei Gesetzen und Würsten ist es besser man weiß nicht wie sie gemacht werden“. So ist es auch bei Counterinsurgency. Damit das Rezept gelingt, braucht es Zutaten, die manchmal unappetitlich wirken können, z.B. „Warlords“.
Warlord klingt scheiße. Kriegstreiber, Profiteure des Krieges, Kriegsverbrecher, man denkt an Bürgerkriege in Afrika mit Blutdiamanten und Sklavenhandel. Wir denken so. Für die Afghanen sind diese „Warlords“ etwas anderes, etwas natürliches. Lokale Milizenführer. Es sind die örtlichen Respektspersonen. In ihren Milizen kämpfen die Jungs aus dem Dorf. Brüder, Söhne, Väter. Sie sind Teil der speziellen Gegebenheiten vor Ort. Wenn man gegen alle Milizen (Warlords) im Land vorgeht, hätte man umgehend den totalen Aufstand. Also versucht man sie statt dessen einzubinden. Man gibt ihnen Jobs, bindet sie ein in die afghanische Provinzialstruktur, macht die Sache Kabuls zu ihrer Sache. So wie man es im Irak mit den „Sons of Iraq“ erfolgreich getan hat. So wie es die Briten in Malaya gemacht haben. Es kann funktionieren, sehr gut sogar. Es ist vielleicht nicht schön, nicht perfekt, aber es ist der afghanische Weg. Und in Afghanistan funktioniert nur der afghanische Weg. Es würde in Deutschland niemals funktionieren, hier könnten wir niemals bewaffnete Milizen dulden. Aber Afghanistan ist nicht Deutschland.
Die Bedenken, die StOPfr und Megawaldi hier äußern, sind weder naiv noch dumm, sie sind nicht von der Hand zu weisen, sie beruhen auf anständigen Prinzipien, Moral und Ethik, dem Gefühl für richtig und falsch, und sie werden wahrscheinlich von den meisten Bürgern in unserem Land geteilt. Trotzdem müssen wir sie überwinden, wenn wir in Afghanistan erfolgreich sein wollen. Nicht ohne Grenzen natürlich, es muss Grenzen geben, ab wann es nicht mehr akzeptabel ist mit jemandem zu kooperieren. Aber diese Grenze wird unscharf sein, und wesentlich weiter „draußen“ liegen – und einige Leute werden noch innerhalb des grünen Bereiches liegen, mit denen keiner von uns privat etwas zu tun haben wollte. Mehr als uns lieb sein könnte. Aber das ist eine Notwendigkeit, wenn wir ein größeres Übel (die Taliban und ihre Verbündeten) von den Afghanen fernhalten wollen. Um die geht es nämlich, nicht um unsere Empfindsamkeiten.