Meine Mutter ist aus der Türkei und ich habe (lange Geschichte) ungewollt die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen. Vielleicht kann ich hier mal einen leicht anderen Blickwinkel beitragen. Wobei ich vorwarnen muss: Ich kann Erdogan so wenig leiden, wie die meisten von euch.
Erdogan hat es zu so großer Beliebtheit gebracht, weil er von all den korrupten Staatsoberhäuptern, die die Türkei in letzter Zeit so hatte, das am wenigsten korrupte war - oder zumindest am meisten Geld zurück zur Bevölkerung geleitet hat. Seit seiner Machtergrei... äähm, ich meine natürlich seit seiner Wahl hat sich die Infrastruktur in der Türkei deutlich verbessert, mit großen Vorteilen für die Wirtschaft und (vor allem) die ärmeren Türken. Zudem hat er letztere durch seine Frömmigkeit auf seine Seite gezogen, die sich mehr und mehr als religiöser Fanatismus entpuppt.
Seine Politik - vor allem die Außenpolitik - führt natürlich zu vielen Nachteilen, auch innerhalb der Türkei. Insbesondere meine ich damit den Tourismus, der durch seine Politik schneller in den Keller sackt, als der Pfund nach dem Brexit. Aber es ist leicht für ihn, die Schuld den bösen Russen, dem bösen Westen und dem bösen Rest der Welt zuzuschieben. Er hat genug Kontrolle über die Medien dafür, und zwar nicht nur durch illegitime Maßnahmen, sondern auch dadurch, dass ihm viele der großen Zeitungen und Fernsehsender - direkt oder indirekt - gehören.
Seine Politik radikalisiert die religiösen Türken. Es wurden sehr viele großzügige Schulstipendien angeboten, allerdings für Schulen mit religiösem Fokus. Er hat es geschafft, den Alkoholverkauf stärker zu regulieren - vor ein paar Jahren hätte das in der Türkei noch zu Krieg geführt. Leute, die das Fasten vorzeitig brechen, egal aus welchen Gründen (sprich: selbst wenn aus medizinischen Gründen) werden mittlerweile geächtet und müssen dies heimlich tun.
Und seine Außenpolitik isoliert ihn. Der Westen entfernt sich, Russland - zu denen ein gutes Verhältnis bestand - sind durch den Flugzeugvorfall brüskiert. Allerdings nähert er sich auch nicht an andere arabische Länder an, vor allem nicht an Syrien. Er sorgt dafür, dass die Türkei ein einsamer, fundamentalistischer Staat wird. Aber die Leute wählen ihn dennoch, weil er Autobahnen baut.
Vor Erdogan hätte die Türkei vielleicht noch in die EU gekonnt. Die Wirtschaft ist stark genug, und ich bin sicher, dass sich dies positiv auf den Zustand der Demokratie ausgewirkt hätte. Aber nun ist die Türkei weiter davon entfernt, als jemals zuvor.
Und das spaltet natürlich auch die türkische Bevölkerung in Deutschland. Viele sehen sich als 'Türken im Exil', verweigern sich stärker der hiesigen Gesellschaft und Politik. Andere dagegen sehen sich nun stärker als Deutsche, die zwar die türkische Kultur pflegen, sich aber politisch hier heimisch fühlen. Ich wette, dass viele Türken diese Tage den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft stellen. Und das sind die integrierten, die gebildeten, erfolgreichen und wirtschaftlich stabilen. Und das sind - in nicht wenigen Fällen - echte deutsche Patrioten, denen nur dieser Stups gefehlt hat.