Wie läuft das Procedere denn ab, wenn Angriff im Baltikum auf Deu-Truppen erfolgt? Ausrufung S-Fall in Deu? usw?
Trotzdem nur kurz zur Ergänzung. Der Wortlaut des Grundgesetzes ist eindeutig und unmissverständlich. Der Verteidigungsfall kann nur dann festgestellt werden, wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird.
...oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht...
Ganz so einfach ist es dann also doch nicht. Der zweite Teil gibt der Politik schon einiges an Interpretationsspielraum, weil es eben die Aufgabe des Staates ist nicht erst abzuwarten was passiert, sondern Bedrohungen zu antizipieren. Und da es sich in diesem Kontext im Zweifel um sehr endgültige Bedrohungen handeln könnte dürfte der Interpretationsspielraum sehr umfassend sein. Tatsächlich können wir davon ausgehen, dass es sich nicht um juristisch abschließend definierbare Kontexte handeln kann (bzw. darf) sondern um weit gefasste ableitbare logische Kausalketten die bereits bei einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit greifen können - wenn es den entsprechenden politischen Willen dazu gibt.
In allen Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes zum Thema Verteidigung hat das Gericht immer sehr deutlich gemacht, dass in diesem Kontext der Primat der Politik maßgeblich ist und nicht etwa starre Normen, die schlimmstenfalls unvereinbar mit der Realität sind. Du schreibst ja, dass es letztlich eine politische Entscheidung ist, ich wollte dies aber trotzdem nochmal herausstellen.
Die Frage der Feststellung von Voraussetzungen für V- oder Spannungsfall ist eine politische, keine juristische. Beim Spannungsfall (und im Weiteren dann beim V-Fall) geht es dabei primär um die Antizipation von Angriffshandlungen um diesen schnell und effektiv mit militärischen Mitteln begegnen zu können, um die antizipierte Bedrohung zu vernichten. Das schwerwiegendste staatliche Mittel - der Einsatz umfassender militärischer Gewalt - wird eingesetzt um denn Staat in seiner Existenz zu bewahren und die Staatselemente zu schützen.
Nach Abschluss dieser Maßnahmen darf sich dann die Judikative damit befassen ob das alles richtig war oder nicht. Auf Grund dieser Kausalität steht bei Soldaten auch der anordnende Vorgesetzte für seine Entscheidungen gerade und nicht wie bei allen anderen Statusgruppen des öffentlichen Dienstes der handelnde/entscheidende/nicht entscheidende Mensch selbst.
Schon alleine die Definition von "Waffengewalt" muss durch hybride Angriffsformen deutlich unkonventioneller gedacht werden als es im "klassischen Sinne" der Fall ist. Hier können Diskussionen und Entscheidungen von NATO- und UN-Gremien einen Hinweis geben. Wenn beispielsweise ein Staat durch digitale Angriffe ein deutsches Atomkraftwerk oder eine Talsperre beschädigt kann obliegt es der zuständigen Legislative zu bemessen, ob dies als Grundlage für den Spannungs- oder Verteidigungsfall reicht. Hierfür dürfte allerdings auch schon der ein oder andere virtuelle Angriff z.B. auf den Bundestag reichen - Anlässe denen bisher eher mit vollständiger Ratlosigkeit begegnet wurde, weil man partout keine Angriffshandlung unterstellen wollte.
Was hier völlig zu kurz kommt: Die völkerrechtliche Befugnis zur Selbstverteidigung (Art 51 Charta der Vereinten Nationen) hat nichts damit zu tun, ob Deutschland den V-Fall feststellt oder nicht. Es besteht auch keine Verpflichtung, den V-Fall festzustellen. Es wäre auch völlig in Ordnung, wenn Deutschland einen echten Selbstverteidigungskrieg führt, ohne dass der V-Fall festgestellt wird. Auch dies könnte aus politischen Gründen so entschieden werden, wenn man das wollte.
Die Streitkräfte nach Art 87a des Grundgesetzes zur Verteidigung einzusetzen, bedeutet nicht, dass man einen V-Fall feststellen muss. Das ergibt sich schon daraus, dass die Bundeswehr älter ist als der V-Fall, der erst nachträglich ins Grundgesetz eingefügt wurde.
In der deutschen Rechtssystematik bedarf es dann aber trotz der UN-Charta einer rechtlich normativen Ermächtigungsumsetzung, damit die Exekutive den Art 51 umsetzen darf - wie zum Beispiel ein Bundestagsmandat (was ja schon für die angegriffene Truppe im Baltikum oder den Bündnisfall dargestellt wurde.
Wir haben ja auch das Internationale Seerechtsübereinkommen unterzeichnet, trotzdem darf in Deutschland kein Kriegsschiff (obwohl dies im Seerechtsübereinkommen so geregelt ist) auf Basis dieses international gültigen Rechts Piraterie bekämpfen.
Schön, dass wir in Deutschland alles maximal verkomplizieren können.
Gruß Andi