"Reisners Blick auf die Front
"Ukraine will mit Taurus gezielt Brücken angreifen"
14.08.2023, 18:47 Uhr
Immer wieder versucht die Ukraine Brücken auf der Krim anzugreifen, mit bislang mäßigem Erfolg.
Für eine gezielte Zerstörung brauche Kiew den gewünschten Marschflugkörper Taurus, sagt der
österreichische
Oberst Markus Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de. Dieser habe im
Vergleich zu Scalp oder Storm Shadow entscheidende Vorteile. Die zögerliche Haltung der deutschen
Regierung über eine mögliche Lieferung bezeichnet der Militärexperte als eine Fortsetzung der
"boiling the frog"-Strategie der USA.
ntv.de: Die Ukraine hat bereits die Marschflugkörper Scalp und Storm Shadow aus Frankreich und Großbritannien bekommen.
Warum möchte Kiew auch Taurus haben? Was macht die Waffe so attraktiv?Markus Reisner: Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen die Quantität und zum anderen die Qualität. Die Quantität verbessert
sich automatisch, wenn Deutschland von seinen etwa 600 Taurus eine signifikante Anzahl der Ukraine abgeben würde.
Dadurch steigt das Arsenal der Ukraine, denn durch die laufenden Einsätze verringert sich der Bestand der Scalp und Storm Shadow.
Viel bedeutungsvoller aber ist der qualitative Unterschied. Die Marschflugkörper vom Typ Scalp oder Storm Shadow sind bunkerbrechende
Waffen und dafür entwickelt worden, tief in die Erde einzudringen, dort Betonwände zu durchbrechen und im Inneren eines Bunkers zu explodieren.
Das liegt an dem Zünder, der so angelegt ist, dass er erst detoniert, nachdem er mehrere Betonwände oder die Erde durchdrungen hat.
Diese Zünder sind beim Storm Shadow und Scalp nicht wechselbar, ganz im Gegensatz zum Taurus, der variabel einstellbare Zünder hat.
Das bringt den großen Vorteil, dass es mit dem Taurus möglich ist, gezielt Brücken anzugreifen und zu zerstören.
Die Ukraine hat in den letzten Tagen und Wochen immer wieder probiert, Brücken auf der Krim anzugreifen.
Wirkliche Schäden hat es dabei aber nicht gegeben.Das liegt daran, dass die Treffer zwar sehr exakt waren. Sie haben aber nur zu einem Durchdringen der Brückenfahrbahn gereicht, nicht
zur Zerstörung wichtiger Brückenpfeiler. Mit dem Taurus wäre das aber möglich.
Am Wochenende hat die Ukraine erneut probiert, die Kertsch-Brücke auf der Krim anzugreifen.
Welche Raketen wurden dafür benutzt?Die Kertsch-Brücke ist schon zweimal bei Angriffen der Ukraine schwer beschädigt worden. Einmal mithilfe eines mit Sprengstoff beladenen
LKWs und das zweite Mal durch unbemannte Überwassersysteme, die sich an einem Brückenpfeiler in die Luft gesprengt haben. Der letzte
Angriff ist wieder aus der Luft erfolgt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit durch weiterreichende Systeme, vergleichbar mit Marschflugkörpern.
Es gibt die Vermutung, dass es umgebaute S-200er gewesen sein könnten. Da es aber keine Bilder von Trümmerteilen gibt, lässt es sich
nicht sicher sagen. Sicher ist nur, dass es zu keinem Treffer gekommen ist.
Woher kamen dann die großen Rauchwolken, die über der Brücke aufgestiegen sind?
Von den Abwehrmaßnahmen der Russen. Der Einsatz von Nebel, also die Rauchschwaden, die wir gesehen haben, war der klassische Versuch,
die genaue Zielsteuerung auf die Brücke unmöglich zu machen.
Sind die Angriffe auf die Brücken der einzige Grund, weshalb die Ukraine die Taurus-Marschflugkörper haben will?Die Ukrainer wollen mit Taurus Brücken angreifen, weil sie sie damit gezielt zerstören können.
Außerdem haben sie eine höhere Reichweite als die Scalp oder Storm Shadow.
Taurus hat eine Reichweite von über 500 Kilometern und Scalp und Storm Shadow können "nur" bis zu 350 Kilometer weit fliegen, oder?Richtig. Es ist deshalb interessant, wie in Deutschland darüber diskutiert wird, diese Raketen "zu entschärfen". Aber was bedeutet das?
Dass die Ukrainer keine Koordinaten eingeben können, die auf russischem Territorium liegen? Oder dass die Rakete in ihrer Reichweite beschränkt wird?
Macht es Ihrer Meinung nach Sinn, die Reichweite zu beschränken?Es ist offensichtlich der Versuch, Russland nicht zu massiven Vergeltungsmaßnahmen zu verleiten. Das Problem ist, dass die Ukraine Waffen bekommt,
um sich zur Wehr zu setzen, diese Waffen dann aber nicht zu 100 Prozent einsetzen kann. Das schafft ihnen gegenüber Russland einen Nachteil.
Es gehört eben auch eine Portion Vertrauen dazu, dass die Ukraine diese Raketen nicht auf russischem Territorium einsetzt. Sie tut es mit Drohnen
und anderen Waffen ja sowieso schon. Und dazu haben sie völkerrechtlich auch das Recht, weil sie sich gegen Russland verteidigen.
Sie greifen russisches Territorium an, aber nicht mit den aus dem Westen gelieferten Scalp und Storm Shadow.Genau, bisher gibt es kein einziges Beispiel, wo die Russen Trümmerteile einer Scalp auf russischem Territorium beispielsweise gezeigt hätten.
Können Sie daher die zögerliche Haltung und die Bedenken der deutschen Regierung verstehen,
dass die Ukraine Taurus-Flugkörper auf russischem Boden einsetzen könnte?Ich vermute, die deutsche Regierung führt die Strategie fort, die auch die amerikanische Regierung verfolgt. Es gibt einige Beispiele, die zeigen,
dass sie kein Interesse an einer Eskalation des Konflikts haben. Von den amerikanischen HIMARS-Systemen, die sehr erfolgreich waren, wurden
letztes Jahr im Sommer 20 Stück geliefert, 18 weitere wurden für die nächsten zwei Jahre zugesagt. Die Ukraine hatte aber 100 bis 150 Stück
gefordert, was militärisch auch sinnvoll gewesen wäre. Sie haben sie aber nicht bekommen. Die Frage ist: warum? Das Zweite sind die immer
noch nicht gelieferten ATACMS, eine ballistische US-Kurzstreckenrakete mit einer Reichweite von über 300 Kilometern. Bis heute behaupten die USA,
diese Raketen seien nicht das, was die Ukraine gerade braucht, obwohl das jeder militärischen Logik widerspricht. Der dritte Punkt sind die
F-16-Lieferungen. Auf der Welt sind circa 3000 F-16-Jets im Einsatz und seit Monaten schafft man es nicht, zusätzliche Piloten auszubilden und die Flugzeuge zu liefern.
Und das vierte Beispiel?All diese russischen Raketen, Marschflugkörper und Drohnen können Ziele in der Ukraine und kritische Infrastruktur nur zerstören, weil sie mit GPS fliegen,
dem russischen GLONASS-System (russische Version des GPS). Das könnte man stören, tut es aber nicht. Und auch bei der Diskussion um den Taurus
ist der Hintergrund offenbar die Strategie der Amerikaner nach "boiling the frog" (diese Strategie zielt auf ein langsames Niederringen des Gegners,
ohne dass er es merkt und reagiert, Anm. d. Red.). Immer dann, wenn die Ukraine militärisch ins Hintertreffen kommt, will man wieder einen symmetrischen
Ausgleich herstellen, aber nicht übers Ziel hinausschießen. Weil man offensichtlich Angst hat, dass Russland dann Maßnahmen setzt, die regionale oder sogar
überregionale Folgen haben können. Das spiegelt sich auch in der jetzigen Diskussion wider.
Die Taurus-Marschflugkörper passen nur an die Flugzeugträger Eurofighter, F-16 oder Tornado. Die hat die Ukraine aber alle nicht, oder?Nein, aber das Problem gab es schon bei der Scalp und der Storm Shadow. Die Ukraine hat dann ihre Su-24-M-Flugzeuge so modifiziert, dass sie die
Marschflugkörper tragen können. Man müsste also wieder versuchen, die Jets so zu modifizieren, dass sie die Taurus tragen können. Das dürfte vom
Aufwand aber nicht so groß sein, weil die Taurus grundsätzlich in ihrer Konstruktion dem Storm Shadow und Scalp sehr ähnlich ist.
Die Ukraine müsste dann einige Su-24-M-Jets so modifizieren, dass die zwar Taurus, aber nicht mehr Scalp oder Storm Shadow tragen können.
Reicht die Anzahl der Flugzeuge dazu aus?Die Ukraine hat nur eine Handvoll Su-24-M-Flugzeuge. Das Problem würde sich erst dann lösen, wenn sie F-16-Jets zur Verfügung hätte.
Die kann aufgrund ihrer Konstruktion viele Waffensysteme tragen, zum Beispiel auch aus amerikanischer Produktion, wie die lasergelenkte Bombe GBU-28.
Das würde der Ukraine ermöglichen, mehrere Angriffe gleichzeitig zu fliegen. Der Grund, warum sie überhaupt noch eine funktionierende Luftwaffe haben,
ist, dass die sowjetischen Su-24-M sehr robust sind. Viel robuster als F-16 zum Beispiel. Und zweitens, weil die Ukrainer fast jeden Tag diese Flugzeuge
von einem Flugplatz zum nächsten verlegen und dazwischen sogar auf Autobahnen stationieren. Sie versuchen sich so der Aufklärung der Russen zu entziehen.
Die greifen immer wieder mit dutzenden Marschflugkörpern Flugplätze in der Ukraine an. Aber bis jetzt schlagen die meistens ins Leere.
Das könnte die Diskussion um eine Lieferung von F-16 für die Ukraine deutlich verbessern und die Möglichkeit erhöhen, andere Waffensysteme zu tragen.
Werfen wir noch einen Blick auf die Front. Die ukrainischen Streitkräfte sollen am Wochenende den Ort Urozhaine im Süden von Donezk befreit haben.
Lässt sich das bestätigen?Die Ukraine hat es im Zentralraum tatsächlich geschafft, in Urozhaine vorzurücken. Das sehen wir auch sehr eindeutig auf Videos, auf denen russische
Soldaten zu Fuß versuchen, aus dieser kleinen Ortschaft unter massivem Artilleriefeuer zu fliehen und versuchen, sich südlich irgendwo festzusetzen.
Das ist ein taktischer Erfolg, weil die Ukraine somit ihren Vorstoß bei Staromajorske in Richtung Osten erweitern konnte, während die Russen
zurückgedrängt worden sind. Es ist aber kein operativer Erfolg, weil der Durchbruch bisher nicht nachhaltig ist und noch nicht in die Tiefe führt.
Gibt es seit vergangener Woche noch weitere Veränderungen an der Frontlinie?Im Süden, in den Oblasten Saporischschja und Cherson ist interessant, dass die Ukraine in den letzten Tagen immer wieder versucht hat,
verschiedene Brückenköpfe am Südufer des Dnipro einzurichten. Noch gibt es keinen großen Brückenkopf, der es auch möglich machen würde,
Gerät und Ausrüstung auf die andere Seite zu bringen. Das Gelände ist nach wie vor sehr schwierig, weil es zum Großteil Überschwemmungsgebiet ist.
Im Norden sehen wir Erfolge bei den Russen, die einen erfolgreichen Gegenangriff bei Kupjansk gestartet haben. Dort ist die 1. russische Garde-Panzerarmee
mit der linken und der rechten Flanke zentral vormarschiert. Man kann aber auch hier noch nicht von einem zentralen Durchbruch sprechen."
Quelle: ntv.de
https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-will-mit-Taurus-gezielt-Bruecken-angreifen-article24323972.html